15.05.2020
Pflegegrad-Einstufung: Außerhäusliche Aktivitäten
In unserer Serie sind wir beim siebten „Modul“ der Pflegegrade angekommen: dem Bereich „außerhäusliche Aktivitäten“.
Für die Gesamtberechnung des Pflegegrads sind zwar nur die Punkte bis zum sechsten Modul – Alltagsleben und soziale Kontakte – relevant, besprochen werden die folgenden Punkte im Beurteilungsgespräch aber trotzdem.
Deswegen führen wir sie hier auf und erklären die einzelnen Punkte, die abgefragt werden.
Auch im aktuellen Teil wird wieder beurteilt, ob eine Person selbstständig, überwiegend selbstständig, überwiegend unselbstständig oder unselbstständig ist.
Wir sehen uns diese Punkte wieder am Beispiel von Frau Müller an, für die beim Termin mit dem medizinischen Dienst ihr Enkel und eine Pflegekraft dabei sind.
Bei allen Aspekten fragt der Vertreter oder die Vertreterin des medizinischen Diensts nach den Erfahrungen im Alltag oder der theoretischen Fähigkeit. Wenn Frau Müller also – entgegen ihrer Gewohnheit oder ihres Wunsches – beispielsweise schon lange nicht mehr sonntags im Gottesdienst war, kann sie ja beschreiben, ob sie prinzipiell dazu in der Lage wäre. Es zählen sowohl körperliche als auch mentale oder psychische Einschränkungen zu den Einschränkungen der Fähigkeit.
Verlassen des Bereichs der Wohnung oder der Einrichtung
Für Menschen, die zuhause in ihrer Wohnung oder einem Haus leben, geht es um die Frage, ob sie selbstständig den Weg „vor die Tür“ schaffen: Vom Anziehen über das Mitnehmen eines Haustürschlüssels bis zur körperlichen Fähigkeit, die Schritte bis zur Tür zu machen, die Tür zu öffnen und rauszugehen.
In einem Wohnhaus kann das auch bedeuten, dass jemand zunächst Treppen steigen muss, um von der Wohnungstür bis zur Haustür zu kommen.
Wer in einer Einrichtung – einem Pflege- oder Altenheim oder einer Wohngemeinschaft – lebt, muss zunächst sein eigenes Zimmer oder seine Station verlassen. Dieser Weg wird dann al „Verlassen des Bereichs“ verstanden.
Beispiel: Frau Müller kommt nicht eigenständig bis vor die Haustür. Sie kann sich zwar anziehen und den Ausflug gedanklich planen und praktisch vorbereiten, aber sie kann die Treppen nicht allein bewältigen. Da sie den Weg mit Hilfe einer einzelnen Person aber gut schafft, ist sie überwiegend unselbstständig (und nicht ganz unselbstständig).
Fortbewegen außerhalb der Wohnung oder Einrichtung
Hierbei geht es um Wege außerhalb des ganz persönlichen Wohnbereichs – also zum Beispiel zu den Nachbarn, zu einem Laden an der Ecke oder einfach nur, um eine „Runde spazieren zu gehen“.
Auch dieser Bereich wird danach beurteilt, ob jemand Hilfe von anderen Menschen braucht – wer mit Stock oder Rollator selbstständig unterwegs sein kann, ist im Sinne des Moduls auch selbstständig.
Eine weitere Einschränkung ist die Beschränkung auf fixe Wege: Wer nur ganz vertraute Wege alleine bewältigen kann, und sonst beispielsweise Hilfe zur Orientierung benötigt oder allein zu viel Angst hat, mal links statt rechts abzubiegen, ist leicht unselbstständig.
Beispiel: Weil Frau Müller alleine kaum vor die Tür kommt, ist sie auch so gut wie nie ganz allein unterwegs. In Begleitung einer anderen Person bewegt sie sich aber mit guter Orientierung und recht sicher.
Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel im Nahverkehr
Wer seinen Bewegungsradius noch etwas erweitern möchte, kann öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Dazu muss man allerdings den richtigen Bus, die richtige Straßen- oder U-Bahn auswählen können. Außerdem muss das Ein- und Aussteigen körperlich möglich sein.
Einige Menschen finden diese Reisen allein zu anstrengend oder kompliziert. Andere können zwar bestimmte Strecken bewältigen, aber würden sich nicht trauen, die Straßenbahn statt des Busses zu nutzen oder mal in eine andere Richtung zu fahren.
Beispiel: Frau Müller fährt mit ihrem Enkel manchmal im Bus oder mit der Straßenbahn zum Arzt. Allein hat sie mit dem Ein- und Aussteigen Schwierigkeiten. Sie ist auch froh, selbst nicht auf die richtige Haltstelle achten zu müssen. Ihr Enkel berichtet, dass sie beim Bahnfahren auch in Begleitung immer sehr aufgeregt ist.
Mitfahren in einem Kraftfahrzeug
Die Fahrt in einem Privat-PKW ist für die meisten Leute gewohnter als die Reise mit öffentlichen Verkehrsmitteln Auch Taxis zählen hierzu – eine einfache Alternative für viele Menschen, die im Alltag vieles schaffen, aber nicht mobil genug für lange Strecken sind. Viele ältere oder pflegebedürftige Menschen fahren gern im Auto mit, auch wenn sie Hilfe beim Ein- und Aussteigen brauchen. Sie sind größtenteils selbstständig auf der Fahrt.
Andere Menschen brauchen auch während der Fahrt Hilfe, die der Fahrer oder die Fahrerin nicht leisten kann. Es reicht also nicht, die Person anzusprechen oder zu beruhigen, sondern sie braucht viel Aufmerksamkeit oder muss unterwegs gestützt werden. Manche Leute haben auch plötzlich Angst in Autos und versuchen, sich während der Fahrt abzuschnallen. Auch sie brauchen Hilfe während der Fahrt und sind eher unselbstständig.
Beispiel: Frau Müller fährt gern mit einem Taxi. Sie braucht zwar Hilfe beim Ein- und Aussteigen, aber oft arrangiert ihr Enkel die Fahrten so, dass er oder die Pflegekraft Frau Müller zum Taxi bringt oder vom Taxi abholt und nach oben begleitet. Im Auto ihres Enkels fährt sie etwas weniger gern – die Sitze sind sportlicher und sie muss sich während der Fahrt festhalten. Insgesamt ist sie also überwiegend selbstständig.
Teilnahme an kulturellen, religiösen oder sportlichen Veranstaltungen
Auch wer pflegebedürftig ist, will und soll an Veranstaltungen mit vielen anderen Menschen teilnehmen: Den Gottesdienst besuchen, ins Theater gehen oder beim Fußball zusehen.
In diesem Fall wird nur unterschieden, ob jemand allein, nur mit Begleitung oder gar nicht an entsprechenden Veranstaltungen teilnehmen kann. Das gilt beispielsweise auch, wenn jemand nicht lange zwischen vielen Menschen sein kann, sich zu schnell langweilt oder müde oder ängstlich wird.
Beispiel: Frau Müller berichtet, dass sie lange nicht mehr in der Kirche war. Das könnte auch daran liegen, dass ihr Enkel keine Lust hat, sie zu begleiten und sie sonst niemanden kennt, der ihr auf dem Weg helfen könnte. Ähnlich sieht es mit anderen Veranstaltungen aus: Frau Müller würde gerne mal wieder ins Theater, aber weil sie allein nicht mobil genug ist, nimmt sie aktuell an keinen Veranstaltungen teil. Die Pflegekraft notiert sich gedanklich, Frau Müller später mal auf weitere Betreuungsmöglichkeiten anzusprechen (wie zum Beispiel bei uns in Dortmund als Unterstützung im Haushalt und Alltag angeboten).
Der Berater schätzt Frau Müller so ein, dass der Besuch in Begleitung möglich wäre.
Besuch von Arbeitsplatz, einer Werkstatt für behinderte Menschen oder einer Einrichtung der Tages- und Nachtpflege oder eines Tagesbetreuungsangebotes
Für einige Menschen mit Einschränkungen oder Behinderungen ist eine „normale“ Arbeitsstelle immer noch eine Option: Sie benötigen zwar Unterstützung, um zur Arbeit zu gelangen oder sich vor Ort zu bewegen, können aber ihre Arbeit durchführen oder beispielsweise lernen und studieren.
Andere arbeiten in speziellen Werkstätten, in denen geschultes Personal zur Unterstützung oder Betreuung von mehreren Mitarbeitern vor Ort ist.
Wer nicht arbeiten kann oder nicht mehr muss, kann tagsüber oder nachts eine Pflegestelle oder ein Betreuungsangebot wahrnehmen.
Dieser Punkt ist in Gutachten auch wichtig, weil Gutachter beispielsweise den Besuch einer Tagespflege oder eines Tagesbetreuungsangebots empfehlen können. In vielen Familien kann so ein Besuch den Alltag für die übrigen Familienmitglieder stark entspannen und die neue Umgebung bedeutet Abwechslung für Patientinnen und Patienten.
Beispiel: Frau Müller muss nicht mehr arbeiten und hat da auch keine Lust drauf. Eine Tagesbetreuung käme für sie aber in Frage. Hier könnte sie mit anderen zusammen den Tag verbringen und hätte eine interessante Routine oder fixe Termine in der Woche.
Solange sie auf dem Weg gut begleitet oder abgeholt wird, schätzt man sie vor Ort selbstständig ein.
Teilnahme an sonstigen Aktivitäten mit anderen Menschen
Diese „sonstigen Aktivitäten“ sind vor allem Treffen im kleineren Kreis – also zum Beispiel ein Besuch bei Freunden oder der Familie oder die Teilnahme an Treffen wie beispielsweise einer Selbsthilfegruppe, einem Vereinstreffen oder einer Handarbeitsrunde.
Es wird wieder unterschieden, ob die Person bei der Aktivität allein dabei sein kann, oder eine Person die ganze Zeit über dabei sein muss – oder ob solche Besuche aus irgendwelchen Gründe gar nicht möglich sind.
Beispiel: Frau Müller kann zwar nicht allein zu irgendwelchen Treffen, verbringt aber gern einen Nachmittag auch mal bei ihrer Familie. Sie ist froh, dass dabei andere hilfsbereit ein Auge auf sie haben und sie stützen, wenn sie einen längeren Weg gehen möchte. Sie nimmt an keinen Treffen teil, auch wenn sie früher gern den Frauenkreis der Kirchengemeinde besucht hat.
Die Auswertung
Die Punkte in diesem Bereich zählen wie erwähnt nicht zur Berechnung des Pflegegrads. Aber sie helfen allen Beteiligten, noch mal einen besseren Eindruck von der Situation zu bekommen. Bei Frau Müller fällt beispielsweise auf, dass vor allem Wege zu und von Veranstaltungen oder Orten ihr Schwierigkeiten bereiten. Ein Taxi kann an vielen Stellen helfen, diese Hürde zu überwinden.
Auch eine Tagespflege ist eine Idee, über die Frau Müller mit ihrem Enkel nachdenken kann. Sie könnte zum Beispiel überlegen, so eine Tagespflege einmal wöchentlich zu besuchen.
Manchmal entsteht bei diesen Gesprächen schon ein Eindruck davon, welche anderen kleinen Maßnahmen jemandem helfen könnten, auch wenn sie nicht von der Pflegekasse bezahlt werden. Frau Müllers Enkel überlegt beispielsweise, ob er nicht jemanden in der Kirchengemeinde ansprechen und darum bitten kann, mit Frau Müller den Gottesdienst zu besuchen – er übernimmt dann das Bringen und Abholen mit seinem Auto.