Keine Pflegefalle: So helfen Freunde, Nachbarn und Angehörige, ohne Pflege zum Nebenjob zu machen – Teil 1

22.07.2022

Keine Pflegefalle: So helfen Freunde, Nachbarn und Angehörige, ohne Pflege zum Nebenjob zu machen – Teil 1

Pflege wird für Angehörige, Freunde und Nachbarn oft zu einem Nebenjob, für den sie sich nie aktiv entschieden haben. Irgendwann nimmt die Arbeit so viel Zeit ein wie eine Neben- oder sogar eine Vollzeittätigkeit. Dabei sollte in der Familie, zwischen Freunden oder unter Nachbarn doch eigentlich das Miteinander im Vordergrund stehen und nicht die Arbeitsbelastung.

NRW beispielsweise versucht aktiv, mehr Angehörige für die Pflege zu gewinnen. Das geht nicht immer gut. Wir beleuchten, wie es dazu kommt, dass die Pflege-Arbeit überhandnimmt, und in den nächsten Monaten auch, wie man das verhindert oder wieder ändert.

Ausdrücklich geht es dabei um Situationen, die eben nicht für alle funktionieren, nie so geplant waren oder mit der Zeit zur Last geworden sind. Natürlich gibt es auch Konstellationen, in denen Pflegeaufgaben so gut verteilt sind, dass sie keine untragbare Last sind!

Alles fängt klein an

Wenn Angehörige, Freunde und Nachbarn pflegen, beginnt das oft ganz klein: Erst kocht man gelegentlich für die Nachbarin Trude mit – sie ist ja eh nebenan, und hat früher ja auch immer im Urlaub Blumen gegossen, da kann man sich an heißen Tagen die Arbeit teilen. Dann wird das irgendwie zur Gewohnheit und später zur Pflicht: „Ich muss mittags zuhause sein, damit Trude ihr Essen bekommt.“

Wenn Nachbarin Trude dann eines Tages einen Unfall hat und sich den Arm bricht, möchte man sich nicht quer stellen, und bietet auch im Alltag ein bisschen Hilfe an. Und weilpflege „wir Frauen unter uns sind“, hilft man eben noch beim Waschen oder Duschen.

… und dann wird es immer mehr

Aber mit der Zeit stellt sich heraus, dass Trudes Arm nicht so schnell verheilt wie gedacht, dass die Aufgaben, die sie eigentlich wieder übernehmen könnte, ihr schwerer fallen als vorher und dass vielleicht auf den gebrochenen Arm bald eine Hüftsteife folgt oder eine Augen-OP oder ein Magen-Darm-Infekt. Trude braucht jetzt jeden Tag viel mehr Hilfe: morgens beim Waschen und Anziehen, mittags möchte sie Gesellschaft zum Essen, abends soll ein Verband gewechselt werden.

Einmal die Woche werden Medikamente vorbereitet, man kümmert sich um die Abrechnung mit Krankenkasse und spricht mit Ärzten. Und dann gibt es auch noch die Nächte, in denen es plötzlich an der Tür klingelt, weil Trude ihre Fernbedienung nicht findet oder sich einsam fühlt oder vergisst, wie viel Uhr es ist.

Die „Pflegefalle“ für Angehörige

Das gleiche Muster gibt es auch in Familien. Auch hier geht es oft erst um kleine Hilfe – nur, weil Mutter oder Schwiegervater nicht mehr allein die schweren Mülltonnen vor die Tür schieben können, müssen sie ja nicht gleich ins Pflegeheim. Und Hilfe von außen holen, für so eine Kleinigkeit? Oft spielt „Das Ansehen wahren“ eine wichtige Rolle beim ersten Schritt in die Hilfe, die zu viel wird.

Auch wenn deutlicher wird, dass viel Unterstützung nötig ist, bauen sich in Familien oft noch andere Muster von Druck und Überlastung auf. Einerseits haben Kinder ein schlechtes Gewissen, wenn sie ihren Eltern nicht alle Hilfe bieten. Sie haben mir jahrelang Essen beigebracht, Essen gekocht und gegeben – dann muss ich mich jetzt doch auch kümmern? Eine klare Antwort darauf ist in vielen Fällen: Eltern entscheiden sich, Kinder zu bekommen. Kinder haben danach keine Wahl mehr. Man bekommt Kinder nicht, weil man später Pflegekräfte will, sondern weil man Kinder haben und ihnen ein gutes Leben schenken möchte.

Aber auch wenn der Wunsch, bei der Pflege zu helfen, nicht vom schlechten Gewissen kommt, sondern aus Liebe und Zuneigung wächst, gibt es „falschen“ zusätzlichen Druck.

Geschwister sollten zusammen, nicht gegeneinander stehen

Geschwister sprechen oft über Pflege und versuchen, die Unterstützung untereinander aufzuteilen. Dabei kommen enorm viele Muster zusammen. Die einzige Tochter, der einzige ohne Kinder, die einzige ohne Vollzeitjob, der mit dem Hintergrund in Medizin, die, die am nächsten dran wohnt?

All das sind keine Kriterien dafür, wer wie und wie viel helfen sollte.

Oft greift aber eher das schlechte Gewissen, alter Druck oder aus einer vorrübergehenden Lösung wird ein Dauerjob.

Wenn aus Aushelfen ein Nebenjob wird

Aus der Gefälligkeit ist ein Vollzeitjob geworden, der unsichtbar ist und über den sich andere vielleicht nur lustig machen: Was stresst du dich so? Ist doch nicht dein Job? Lass es doch einfach sein!

Andere machen sich vielleicht sogar darüber lustig, dass man immer gestresst ist, ständig unter Strom steht oder selbst vergesslich und müde wird. Man könnte es doch einfach sein lassen?

Dann brodelt es.

Jemanden einfach so fallen lassen, das ist natürlich fast unmöglich. Und man hasst ja nicht Trude, die Nachbarin, mit der man früher Kochrezepte getauscht hat oder die auch mal auf die Kinder aufgepasst hat. Oder den Vater, der zwischendurch immer noch so hervorragende Tipps gibt, wie man ein Problem im Job lösen könnte, ein offenes Ohr für Stress hat und der beste Schachpartner bleibt. Oder die Freundin, die zwar meistens zu müde für alle Gespräche ist, aber selbst ja nichts für ihren Unfall kann.

Man wird mürbe durch die Arbeit, die ständige Verfügbarkeit, den Stress und die Gedankenkreisel, wie man aus dem Gefängnis aus Aufgaben rauskommt, das sich um einen aufgebaut hat. Also gibt es immer weniger Menschen, mit denen man darüber sprechen kann.

Und die Wut und Hilfslosigkeit und Müdigkeit wird dann doch zu Hass auf den Menschen, den man da pflegen muss, weil er eben das Zentrum all dieser Probleme ist. Dann erwischt man sich, wie man schreit oder beim Anziehen ruppiger ist, als man möchte. Und das schlechte Gewissen wächst, und dann wieder die Wut, und dann wieder das schlechte Gewissen. Ein Teufelskreis.

Festgenagelt durch Hilfestellung.

Eine erste scheinbare Lösung oder Erleichterung tut sich manchmal durch Pflegegeld auf: Wäre doch schade, das verfallen zu lassen. Und dann hast du auch was davon.

Oft ist das Pflegegeld auch eine Riesenhilfe! Aber es ist nicht mal entfernt eine angemessene Kompensation für die Verfügbarkeit rund um die Uhr, die Verantwortung und die Erschöpfung. Und es ist anders als die meisten Jobs einfach keine Übereinkunft zwischen zwei Menschen, sondern ein weiterer Druckpunkt: Ich hab das Geld ja genommen. Da kann ich jetzt nicht einfach Nein sagen.

Die Wahrheit ist: Doch, das geht natürlich. Aber es ist unendlich schwer geworden, den Druck aus Tonnen an Verantwortung zu stemmen – wie soll man es da schaffen, ihn auch noch sorgfältig wegzustemmen?

Es gibt Auswege!

In den nächsten Monaten beleuchten wir ausführlich Möglichkeiten, wie man nicht in die Pflegefalle tappt oder sich daraus befreit.

Als ersten wichtigen Tipp: Bleiben Sie nicht allein! Und nutzen Sie das Wissen von Profis: Wenden Sie sich an eine professionelle Pflegeberatung, egal ob Sie allein oder mit Unterstützung durch einen Pflegedienst pflegen wollen.