22.10.2021
Pflege vor 100 Jahren
Wir haben uns viel mit der möglichen Pflege der Zukunft beschäftigt – Bezahlung, Technologie und Organisation könnten sich ändern. Pflege ändert sich immer wieder. Um das zu verstehen, werfen wir auch einen Blick auf die Veränderungen der Vergangenheit. Wie sah Pflege vor 100 Jahren aus?
Die lange Geschichte der Pflege
Pflege ist eine urmenschliche Tätigkeit, die Zivilisation und Gesellschaft auszeichnet. Dass ein verletzter, alter oder kranker Mensch überlebt, unterscheidet ihn von einem Tier, dem seine Artgenossen nicht helfen (können). Deswegen finden sich Spuren der Pflege auch in allen Jahrhunderten – von der Frühzeit über das alte Ägypten, den ersten Pflegeschulen dank des Islams und schließlich der Entwicklung eines Pflegebegriffs in Mitteleuropa.
Sehr kurz zusammengefasst war Pflege in Europa und später Amerika über viele Jahrhunderte einerseits eine Aufgabe, die von religiösen Organisationen erfüllt wurde. „Schwestern“ der Orden (aber auch Mönche) übernahmen die Pflege von Kranken. Inwiefern sie dabei ausgebildet wurden oder „nur“ Krankenpflege nach bestem Haus-Wissen vornahmen, unterschied sich stark. Gleichzeitig gab es immer wieder Bestrebungen, Krankenhäuser und Pflegestationen zu schließen oder zu verstaatlichen, um religiöse Einflüsse oder Mächte zu entkräften.
Andererseits war Pflege dabei ein Aufgabenbereich, der Frauen zugeordnet wurde: dem Klischee entsprechend sollte die Fürsorge für andere ihnen näher liegen und einen Sinn geben, den sie nicht in anderer Arbeit finden durften. Krankenpflege war in vielen Ländern eine besser bezahlte Alternative zur Tätigkeit als Lehrerin oder Sekretärin und konnte für eine Zeit bis zur Ehe oder lebenslang als Beruf dienen. In Deutschland wurde die Perspektive auf die „natürliche Veranlagung“ der Frauen zu dieser dann kaum bezahlten Arbeit gelegt.
Zwischen zwei Weltkriegen pflegen
Im 19. Jahrhundert entwickelten sich zwei sehr unterschiedliche Verständnisse des Pflegeberufs einerseits in Deutschland und andererseits im englischsprachigen Raum weiter: Während hier die Pflege weiter klein gehalten als „Assistenz“ der Medizin gesehen wurde, entwickelte sich im Rest der Welt auch eine akademische Sicht auf die Pflegetätigkeit und die Notwendigkeit besonderer Fachkenntnisse und Professionalität. Florence Nightingale, Henry Dunant und Rudolf Virchow entwickelten Grundlagen der Pflegeausbildung. Ihre Perspektive auf die Pflege und die darin tätigen Menschen war allerdings unterschiedlich. Agnes Karll gründete einen ersten Berufsverband für Krankenpflegerinnen in Deutschland und setzte sich für eine qualifizierte Ausbildung und bessere Arbeitsbedingungen ein.
Vor etwa 100 Jahren befand sich Deutschland zwischen zwei Weltkriegen. Natürlich wusste man damals nur, dass man sich vom ersten großen Weltkrieg erholte. In ganz Europa waren Menschen traumatisiert und verletzt und versuchten, ihr Leben wieder aufzubauen. Die Pflege stockte in ihrer Entwicklung und alle Tätigkeiten kreisten um die Versorgung von Kriegsverletzten. Internationale, gemeinsame Entwicklungen der Pflege kamen ebenfalls nicht weiter. Stattdessen entwickelten verschiedene Länder unterschiedliche Ausbildungswege für die Pflege.
Pflegetätigkeiten: Ambulant und stationär
Auch um das Jahr 1920 herum gab es schon eine Unterscheidung zwischen der stationären und ambulanten Pflege. Ambulante Pflege konnten sich wohlhabende Patienten leisten, die private Krankenschwestern einstellten – teilweise für die medizinische Versorgung, teilweise als Begleitung und Gesellschaft für im Alter einsame Menschen. Stationär wurden Kranke und Verletzte gepflegt, die in Krankenhäusern und Heimen mit ganz unterschiedlicher Qualität versorgt wurden.
Es entwickelten sich neben Krankenhäusern beispielsweise auch viele Kurhäuser, in denen Patienten und Patientinnen mit schwerwiegenden Krankheiten wie Tuberkulose oder zur allgemeinen Erholung unterkamen. Die Arbeit war dementsprechend unterschiedlich – von der Versorgung hunderter tuberkulosekranker Kinder bis zur Begleitung psychisch oder physisch geschwächter Patientinnen und Patienten in einer Erholungsphase.
Pflege als „Beschäftigung“ für Frauen
Viele Probleme, mit der die Pflege vor 100 Jahren zu kämpfen hatte, sind heute unheimlich vertraut. Pflege galt als eine Tätigkeit, die „jeder“ übernehmen konnte und die nur Frauen durchführten, die sich anders ihren Lebensunterhalt nicht sichern konnten. Die notwendige Ausbildung wurde verkannt und nur langsam erstritten – von einer bezahlten Ausbildung oder akademischen Grundlage war oft gar nicht zu reden.
Die Überlastung der Pflegenden während des zweiten Weltkriegs kam nicht von ungefähr – auch vorher waren die Arbeitsbedingungen nicht gut genug, ausreichend Beschäftigte zu finden. Die Krise, der Krieg, brachte zwar mehr Personal, aber auch unproportional mehr Arbeit.
Nach dem Krieg hatten die Krankenpflegerinnen auch mit vertrauten Problemen zu kämpfen: Nach überstandener Notlage sollte die entspannte Situation sie doch eigentlich zufrieden stellen? Auch das Wahlkampfprogramm einiger Parteien suggeriert im Hinblick auf die Pflege, dass wir noch 100 Jahre in der Vergangenheit leben.